… Sogar die Moral selbst ist in ihrer eigensten Natur völlig durchsetzt und kompromittiert von den scharfen und bösen Grundeigenschaften unseres Geistes; schon ihre Gestalt als Regel, Norm, Befehl, Drohung, Gesetz und Gut wie Böse quantifizierende Abwägung zeigt den formenden Einfluß des metrischen, rechnenden, mißtrauischen, vernichtungswilligen Geistes.
Diesem Geisteszustand steht jedoch ein andrer gegenüber der historisch nicht minder nachweisbar ist, wenn er sich auch unsrer Geschichte weniger stark aufgeprägt hat; er ist mit vielen Namen bezeichnet worden, die alle eine unklare Übereinstimmung tragen. Man hat ihn den Zustand der Liebe genannt, der Güte, der Weltabgekehrtheit, der Kontemplation, des Schauens, der Annäherung an Gott, der Entrückung, der Willenlosigkeit, der Einkehr und vieler andrer Seiten eines Grunderlebnisses, das in Religion, Mystik und Ethik aller historischen Völker ebenso übereinstimmend wiederkehrt, wie es merkwürdig entwicklungslos geblieben ist.
Dieser andere Geisteszustand wird immer mit ebenso großer Leidenschaft wie Ungenauigkeit beschrieben, und man könnte versucht sein, in diesem schattenhaften Doppelgänger unsrer Welt nur einen Tagtraum zu sehen, wenn er nicht seine Spuren in unzähligen Einzelheiten unseres gewöhnlichen Lebens hinterlassen hätte und das Mark unsrer Moral und ldealität bilden würde, das zwischen den harten Fasern des Bösen liegt. Man muß es sich, wenn man nicht eigene eingehende Forschungen zur Grundlage hat, heute versagen, mehr über Bedeutung und Wesen dieses anderen Zustands sagen zu wollen, denn unser Wissen von ihm war bis vor kurzem noch so, wie unser übriges Weltwissen ungefähr im zehnten Jahrhundert war; hebt man aber aus den reinen Beschreibungen in seiner Jahrtausende alten Literatur einige übereinstimmende Hauptkennzeichen heraus, so findet man immer wieder das Dastehn einer andern Welt, wie ein fester Meeresboden, von dem die unruhigen Fluten der gewöhnli-chen zurückgetreten sind, und im Bilde dieser Welt gibt es weder Maß noch Genauigkeit, weder Zweck noch Ursache, gut und böse fallen einfach weg, ohne daß man sich ihrer zu überheben brauchte, und an Stelle aller dieser Beziehungen tritt ein geheimnivoll schwellendes und ebbendes Zusammenfließen unseres Wesens mit dem der Dinge und anderen Menschen.
Dieser Zustand ist es, in dem das Bild jedes Gegenstandes nicht zum praktischen Ziel, sondern zu einem wortlosen Erlebnis wird, und die Beschreibungen vom symbolischen Gesicht der Dinge und ihrem Erwachen in der Stille des Bilds, die vorhin zitiert worden sind, gehören zweifellos in seinen Umkreis…
Robert Musil
… Daher kann der Versuch, sich total von der Totalität der historischen Sprache zu lösen, die den Ausschluß des Wahnsinns bewirkt hätte, der Versuch, sich davon zu befreien, um die Archäologie des Schweigens zu schreiben, nur auf zwei Weisen unternommen werden. Entweder man schweigt von einem bestimmten Schweigen (einem bestimmten Schweigen, das sich wiederum nur in einer Sprache und einer Ordnung definiert, durch die vermieden wird, daß es durch irgendeine Stummheit angesteckt wird), oder man folgt dem Wahnsinnigen auf dem Wege seines Exils. Das Unglück der Irren, das endlose Unglück ihres Schweigens ist, daß ihre besten Sprecher diejenigen sind, die sie am besten verraten. Wenn man ihr Schweigen selbst aussagen will, ist man bereits zum Feind und auf die Seite der Ordnung übergetreten, selbst wenn man in der Ordnung sich gegen die Ordnung auflehnt und sie in ihrem Ursprung in Frage stellt. Es gibt kein trojanisches Pferd, mit dem die Vernunft (im allgemeinen) nicht fertig würde. Daß die unüberwindbare, unersetzbare, beherrschende Größe der Ordnung der Vernunft nicht eine Defacto-Ordnung oder Defacto-Struktur, eine determinierte historische Struktur, eine Struktur unter anderen möglichen Strukturen ist, liegt daran, daß man gegen sie sich nur verwahren kann, indem man sie anruft, daß man gegen sie nur in ihr protestieren kann, daß sie uns auf ihrem eigenen Feld nur den Rückgriff auf das Strategien und die Strategie läßt. Das läuft darauf hinaus, eine historische Determinierung der Vernunft vor dem Tribunal der Vernunft im allgemeinen erscheinen zu lassen. Die Revolution gegen die Vernunft, in der historischen Form der klassischen Vernunft natürlich (aber dieses ist nur ein determiniertes Beispiel der Vernunft im allgemeinen. Und wegen dieser Einzigartigkeit der Vernunft ist der Ausdruck »Geschichte der Vernunft« schwierig zu denken und infolgedessen auch eine »Geschichte des Wahnsinns«), die Revolution gegen die Vernunft kann sich nur in ihr und gemäß einer hegelschen Dimension vollziehen, die ich, für meine Person wenigstens, in dem Buch von Foucault sehr wohl verspürt habe, obwohl ein spezieller Bezug auf Hegel fehlte. Da sie nur innerhalb der Vernunft wirken kann, sobald sie spricht, hat die Revolution gegen die Vernunft also immer die begrenzte Tragweite dessen, was man genau in der Sprache des Ministeriums des Inneren eine Agitation nennt. Man kann zweifellos nicht eine Geschichte oder gar eine Archäologie gegen die Vernunft schreiben, denn trotz des Anscheins ist der Begriff der Geschichte stets ein rationaler Begriff gewesen. Die Bedeutung von »Geschichte« oder »Archie« hätte man vielleicht zunächst befragen müssen. Eine Schrift, die die Werte des Ursprungs, der Vernunft, der Geschichte bei ihrer Befragung übersteigt, könnte sich nicht in der metaphysischen Abgeschlossenheit einer Archäologie einfassen lassen. …
Jaques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Paris 1967